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    «Es gab keine einzige Intensivstation»

    IRAK ⋅ Die Toggenburgerin Antonia Zemp ist für die Hilfsorganisation Médecins Sans Frontières in Krisengebieten auf der ganzen Welt im Einsatz. Für ihr Engagement wurde sie nun von der Junior Chamber International Schweiz ausgezeichnet.

    Pünktlich zum Wintereinbruch kehrte Antonia Zemp letztes Wochenende von ihrem jüngsten Einsatz für Médecins Sans Frontières (Ärzte ohne Grenzen) zurück nach Hause. Nach Hause – das ist für die gebürtige Wattwilerin auch nach ihrem bald fünfjährigen Engagement für die Hilfsorganisation immer noch die Schweiz. «Ich komme jedes Mal wieder gerne in die Schweiz. In der heimischen Natur tanke ich Energie für meine Einsätze im Ausland», erklärt Zemp.

    Dieses Mal verschlug es die Pflegefachfrau in den Irak, wo sie für fast vier Monate in der Stadt Mossul im Norden des Landes stationiert war. Mossul ist gezeichnet vom Konflikt zwischen dem «Islamischen Staat» (IS), der die Millionenstadt von Oktober 2014 bis Juli 2017 besetzt hatte, und den Koalitionskräften, die in einer Grossoffensive ab Oktober 2016 um die Befreiung der Stadt gekämpft haben. «Über die Ereignisse wurde hier in der Schweiz umfangreich berichtet. Die Bilder waren tagtäglich im Fernsehen. Doch die Zustände selber vor Ort zu sehen, ist noch einmal etwas anderes», kommentiert Zemp die Situation. Im Zuge der Befreiung wurden grosse Teile von Mossul zerstört. Vor allem die medizinische Versorgung der Stadt hat unter der «Schlacht um Mossul» gelitten. Rund die Hälfte aller Krankenhäuser wurde von Bomben teilweise oder ganzheitlich zerstört oder vom IS geplündert. «Als wir gekommen sind, gab es in ganz Mossul keine einzige Intensivstation mehr», erklärt die Pflegefachfrau. «Mossul hat Millionen Einwohner. Der Zusammenbruch der medizinischen Versorgung für die Bevölkerung von so einer Stadt ist eine Katastrophe.»

    An Wiederaufbau ist meist noch nicht zu denken

    Médecins sans Frontières hat mit Antonia Zemp als medizinische Leiterin und deren Team eine Gruppe von Fachkräften nach Mossul geschickt, um dem medizinischen Notstand in der Stadt entgegenzuwirken. «Die Teams von Médecins Sans Frontières gehören oft zu den ersten Helfern, die in solchen Situationen vor Ort sind», erklärt Zemp. Gemeinsam mit irakischen Helfern arbeitet das Team in einem öffentlichen Spital, das während des Befreiungskampfes zu 60 Prozent zerstört wurde. «Wir haben die Ernährungsstation rehabilitiert und eine Notfallstation eingerichtet.» Mit dem Projekt geht die Organisation aber auch das Problem der Intensivversorgung von Patienten an: «Wir konnten eine Intensivstation mit vier Betten bereitstellen. Das tönt nicht nach viel, aber in Mossul sind das enorme Fortschritte,» erläutert die Pflegefachfrau.

    Zemp und ihr Team erhoffen sich, dass durch ihr Projekt der Weg für den Wiederaufbau durch die Regierung geebnet wurde: «Wir haben der Stadt unter die Arme gegriffen, indem wir ein öffentliches Spital unterstützt haben. Hoffentlich kann der Staat aber bald eigenständig mit dem Wiederaufbau im medizinischen Bereich weiterfahren, wenn die Mittel und Ressourcen wieder vollumfänglich vorhanden sind.» Dass das Wort Wiederaufbau aber leichter gesagt als umgesetzt ist, spürt die Stadt Mossul derzeit massiv. «Bevor man neu aufbauen kann, muss man zuerst aufräumen. In Teilen der Stadt wurde während der Befreiung jedes dritte Haus zu Schutt und Asche. Der gesamte Hausrat dieser Familien liegt auf der Strasse.» Alleine die Aufräumarbeiten stellen die Stadt laut Zemp folglich vor eine grosse Herausforderung.

    Sicherheit steht an oberster Stelle

    Obwohl Mossul als zurückerobert gilt, ist die Lage in der Stadt immer noch kritisch: «Klar ist die Stadt nun offiziell befreit, doch es gibt immer noch sogenannte Sleeping Cells: Gebiete, wo man nicht weiss, ob der IS vielleicht doch noch vor Ort ist,» schildert Antonia Zemp. Auch intakte Bomben gibt es in der Stadt immer noch zahlreich. Ganze Stadtteile wurden so zu Sperrgebieten, weil sich in gewissen Häusern immer noch Bomben befinden, die explodieren könnten. Zemp sagt: «Ich sah einen solchen Stadtteil nur aus der Ferne. Man hat uns erklärt, dass es den Leuten noch nicht einmal möglich ist, die Leichen aus den dortigen Trümmern zu bergen, weil das Betreten des Gebiets nach wie vor viel zu gefährlich ist. Das ist unvorstellbar.»

    Aufgrund der andauernden schwierigen Situation ist nicht nur die Bevölkerung in Gefahr, sondern auch die Helfer vor Ort. Médecins Sans Frontières wägt vor zu ab, ob die Lage in Krisengebieten wie dem Irak für die Helfer zumutbar ist. Die 33-jährige Zemp und ihre Mitarbeiter mussten deshalb strenge Regeln befolgen, damit die Sicherheit der Gruppe gewährleistet werden konnte. «Wir fuhren beispielsweise jedes Mal einen anderen Weg, wenn wir ins Spital gingen. Es war auch festgelegt, wie lange wir uns jeweils in Mossul aufhalten durften. Von Zeit zu Zeit verliessen wir Mossul und hielten uns in Kurdistan auf. Von dort fuhren wir dann immer zu unterschiedlichen Zeiten los, damit uns niemand verfolgen konnte,» schildert Zemp das Erlebte. Doch auch die Ein- und Ausreise war oft nicht einfach: «Manchmal machte die Grenze plötzlich zu und wir konnten nicht ausreisen. Dann hielten wir uns länger als geplant in Mossul auf. Oder wir wollten von Kurdistan zurück nach Mossul und konnten nicht einreisen, weil die Grenze geschlossen war.»

    Immer auf Abruf für Notfälle

    Antonia Zemp ist solche Ausnahmesituationen mittlerweile gewohnt. In der Vergangenheit war sie bereits einige Male für Médecins Sans Frontières im Einsatz. Die Wattwilerin erzählt: «Notfalleinsätze wie das Projekt im Irak dauern im Normalfall rund drei Monate. Die Belastung ist gross, weshalb es nicht vertretbar ist, die Leute länger in ein solches Krisengebiet zu schicken. Als ich 2015 im Jemen war, wurden wir beispielsweise jede Nacht von Bomben geweckt. In solchen Situationen ist man froh, wenn man nach drei Monaten nach Hause kann. Ich verausgabe mich bei meinen Einsätzen sehr, weshalb ich die Gewissheit, dass ich nach drei Monaten wieder auftanken kann, brauche.»

    Die Pflegefachfrau hat einen Vertrag unterschrieben, durch den sie für zwei Jahre an die Organisation gebunden ist. «Ich bin von Médecins Sans Frontières für zwei Jahre fest angestellt. Während dieser zwei Jahre bin ich im Notfallpool – das heisst, die Organisation schickt mich kurzfristig dorthin, wo meine Hilfe am meisten benötigt wird,» erklärt Zemp. Nicht immer handelt es sich dabei um Länder, die vom Krieg gezeichnet sind: «Médecins Sans Frontières schickt seine Leute auch in Gebiete, die aufgrund von Naturkatastrophen oder Epidemien Hilfe von aussen benötigen. Ebenso Regionen, die vom Gesundheitssystem ausgeschlossen werden und deshalb auf Nothilfe angewiesen sind.» So führte ihr Engagement Zemp unter anderem nach Sierra Leone, als dort die Ebola-Epidemie ausgebrochen war. Auch in Nepal war die Pflegefachfrau vor Ort, nachdem das Land aufgrund eines Erdbebens schwere Schäden erlitten hatte. Im Jemen war Zemp ausserdem sogar zwei Mal: Einmal während einer Krisensituation aufgrund des Kriegs und einmal, um die Krankheit Cholera zu bekämpfen. Die Situation im Jemen beschäftigt die 33-Jährige auch heute noch: «Seit Anfang November sind im Jemen alle Grenzen geschlossen. Ein- und ausreisen ist unmöglich, sowohl die Zölle an Land als auch die Häfen und Flughäfen sind zu.» Die Hilfe, die der Jemen weiterhin dringend benötigt, erreicht die Bevölkerung nicht, weil Hilfsorganisationen keinen Zugang in das Land erhalten.

    Momentan weilt Antonia Zemp zu Hause in der Schweiz. «Ich möchte sicher noch bis nach Weihnachten hier bleiben», sagt die engagierte 33-Jährige. Danach begibt sie sich als medizinische Leiterin auf ihren nächsten Einsatz. Wohin es gehen wird, weiss auch Zemp noch nicht: «Das erfahre ich dann erst kurzfristig – Notfälle kann man schliesslich nicht planen.»

     
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